Nachhaltiges Bauen: Neuer Fokus auf das Mikroklima
Nachhaltige Gebäude kann man sich zertifizieren lassen – jetzt wird dabei der Einfluss des Klimas stärker berücksichtigt. Neu im Kriterienkatalog für das Gebäudezertifikat sind Humankomfort und Windverhältnisse, damit ein angenehmes Mikroklima rund um das Gebäude gewährleistet wird.
Aufgeheizte Asphaltflächen, Schatten fehlt weit und breit. Ein zugiger Balkon ohne Windschutz. Unangenehme Situationen wie diese fallen einem meist erst dann auf, wenn es bereits zu spät ist und bauliche Veränderungen nur mit großem Aufwand – oder im schlimmsten Fall gar nicht mehr – durchgeführt werden können. Ein angenehmes Klima spielt für den Wohn- und Nutzkomfort eine große Rolle. Bei der Planung von Gebäuden und Stadtquartieren sollte dies frühzeitig berücksichtigt werden, um später eine hohe Nutzungsqualität zu bieten.
Ausschlaggebend für ein angenehmes Mikroklima ist das Zusammenspiel mehrerer Faktoren: Niederschlag, Sonnenstrahlung, Strahlungswirkung der Materialien, Luftfeuchtigkeit, Temperatur sowie die Windverhältnisse. Insbesondere der Humankomfort – die Kombination von Sonnenstrahlung, Luftfeuchtigkeit und Temperatur – wird in Zukunft durch höhere Temperaturen und extremere Witterungsverhältnisse abnehmen, wenn keine Gegenmaßnahmen getroffen werden. Daher wurden der Human- und der Windkomfort als zwei neue Kriterien für das Zertifikat für nachhaltige Immobilien aufgenommen.
Gütesiegel für nachhaltige Immobilien
Das Mikroklima ist eines der Aspekte, welche das Gütesiegel für nachhaltige Immobilien bewertet. Bauherren können sich mit dem Gütesiegel der ÖGNI (Österreichische Gesellschaft für Nachhaltige Immobilienwirtschaft) bescheinigen lassen, dass ihre Immobilie über den gesamten Lebenszyklus eines Gebäudes nachhaltig ist – vom Bau und Nutzung über Renovierung bis hin zum Abriss. In die Bewertung fließen der Ressourcenverbrauch sowie die Wirkung auf die lokale und globale Umwelt ein. Sowohl Neubauten als auch Bestandsgebäude können ein Zertifikat erhalten.
Die Zertifizierung der ÖGNI umfasst alle Aspekte des nachhaltigen Bauens und betrachtet diese als einziges Gebäudezertifikat gleichwertig:
- Ökologie
- Ökonomie
- soziokulturelle und funktionale Qualität
- Technik Prozesse sowie den
- Standort.
Je nach Nutzung werden die Kriterien unterschiedlich gewichtet, da beispielsweise ein Bürogebäude andere Tätigkeiten ermöglichen muss als eine Bildungseinrichtung oder ein Krankenhaus.
Mikroklima-Experten entwickelten Kriterien
Maßgeblich beteiligt an der Entwicklung der neuen Kriterien war die Firma Weatherpark, die sich auf Stadtklimatologie und Windforschung spezialisiert. Die Geschäftsführer Simon Tschannett und Matthias Ratheiser erklären, wie man ein angenehmes Mikroklima beeinflussen kann: „Pflanzen filtern und kühlen die Luft, da sie Wasser verdunsten. Asphalt- und Betonflächen sollten prinzipiell vermieden werden. Der Schatten von Bäumen bewirkt, dass sich deren Umgebung weniger aufheizt und sich Menschen dort wohler fühlen. Auch Wasserflächen senken die Umgebungstemperatur durch Verdunstung und bieten die Möglichkeit, sich direkt abzukühlen (Baden). Um unangenehme Windverhältnisse zu vermeiden, kann beispielsweise während der Planung die Ausrichtung der Gebäude verändert oder im Nachhinein mit Bäumen oder Hecken der Wind gebremst werden.“
Bewertung des Mikroklimas: Wie läuft die Zertifizierung ab?
Die Zertifizierung des Mikroklimas verläuft zweistufig. Im ersten Schritt beurteilen die Auditoren der ÖGNI anhand des Biotopflächenfaktors (BFF), ob ausreichend Flächen für einen positiven Naturhaushalt vorhanden sind. Der BFF ist ein Summenwert der ökologischen Flächen auf dem Grundstück, welche gleichzeitig das Mikroklima positiv beeinflussen. Der BFF-Wert berücksichtigt qualitative Aspekte indirekt, misst jedoch nicht die qualitative Wirkung von Maßnahmen und erfasst auch nicht, wie sich verschiedene Faktoren gegenseitig verstärken oder mindern. Die ist ein sehr komplexes Zusammenspiel. Daher ist in einem zweiten Schritt zusätzlich ein Expertengutachten notwendig, um eine höhere Punkteanzahl für das Zertifikat zu erlangen. Fachexperten und -expertinnen beurteilen die quantitativen und qualitativen Wirkungen der Maßnahmen und führen Modellberechnungen durch.
Bewertung heute – auch mit Blick auf morgen?
Es liegt in der Hand der einzelnen Fachleute, wie das Expertengutachten durchgeführt wird und auf welche Datengrundlagen sie zurückgreifen. Damit sich das Gutachten für die Zertifizierung eignet, muss es jedenfalls zahlreiche Kriterien berücksichtigen, wie z.B. das Klima des Standorts und eine langjährige Klimatologie an einer nahen Klimastation. Zukünftige Klimaszenarien sind nicht ausdrücklich gefordert. Eine kundige Fachperson wird aber jedenfalls auch die zukünftige Entwicklung in die Bewertung miteinbeziehen. Insofern gibt die Berücksichtigung zukünftiger Klimaszenarien auch Rückschlüsse auf die Qualität des Expertengutachtens. (AS, Juni 2018)