ExtremA 2019 – aktueller Wissenstand zu Extremereignissen

Naturgefahren und alle damit verbundenen Konsequenzen prägen den Lebensraum in Österreich. Das Wissen über Auftreten, Ursachen und Folgen von Extremereignissen alpiner Naturgefahren in Österreich ist essentiell für die Entwicklung geeigneter Maßnahmen zur Risikominimierung. Der vorliegende Projektbericht hat den Wissensstand zu Extremereignissen in Österreich zusammengetragen und eine wertvolle Basis für Entscheidungstragende geschaffen.

Titelbild Endbericht ExtremA 2019
Endbericht ExtremA 2019 – Aktueller Wissensstand zu Extremereignissen alpiner Naturgefahren in Österreich

Alpine Naturgefahren haben in Österreich eine lange Tradition. Seit Beginn der Nutzung des alpinen Raums für Siedlungen ist die Bevölkerung mit Naturgefahren und ihren Folgen konfrontiert. Naturkatastrophen führen jedes Jahr zu Schäden in Millionenhöhe und fordern Todesopfer. Es gilt als gesichert, dass Extremereignisse weltweit zunehmen werden, dies ist auch für exponierte Regionen wie den österreichischen Alpenraum zu erwarten. Fast zwei Drittel der Fläche Österreichs zählen zum österreichischen Alpenraum, davon sind 22% als Dauersiedlungsraum geeignet. In diesem Gebiet leben 39% der Bevölkerung in Österreich. Lebens- und Wirtschaftsräume konzentrieren sich auf die flacheren und tiefergelegenen Bereiche in den Tälern. Daraus lässt sich erkennen, dass natürliche Prozesse wie Hochwasser, Muren oder Felsstürze schnell zu Naturgefahren mit einem hohen Schadenspotenzial werden können.

Warum ExtremA?

Für das Auftreten von extremen Naturgefahren spielt eine Reihe von Faktoren eine Rolle. Unzweifelhaft und eindeutig ist der Klimawandel eine wesentliche Komponente davon. Es verändert sich aber nicht nur das Klima sondern auch viele andere Umweltfaktoren wie z.B. die Böden, die Vegetation oder die Wasserführung der Flüsse. Zusätzlich findet auch ein Wandel z.B. durch die Ausweitung des Siedlungsraums und Infrastrukturbauten unserer Gesellschaft statt. Landschaften werden direkt verändert, z.B. durch Straßenbau, Flurbereinigungen, Hangbegradigungen für den Pistenbau, Drainagierung von Hängen. Diese Eingriffe sind zwar punktuell, verursachen aber flächenhafte Veränderungen der Umweltprozesse. All diese Komponenten stehen miteinander in einer Wechselbeziehung, eine Auftrennung in einzelne Komponenten als Treiber für das Auftreten von extremen Naturgefahren ist daher sehr schwierig.

Möglichst verlässliche Prognosen über die zukünftige Veränderung der Häufigkeit und Intensität von Extremereignissen sind für eine nachhaltige Sicherheitsplanung von enormer Bedeutung. Auch wenn die Fragestellung durch die große Bandbreite des Auftretens und der Wirkung von extremen Ereignissen sehr komplex ist, benötigen Entscheidungstragende abgesicherte Aussagen zu möglichen Entwicklungen, um eine wirkungsvolle Vorsorge bzw. zeitgerechte Reaktionen zu initiieren. Obwohl die Prognoseunsicherheit hoch bleibt, steigen mit dem Wissen über Extreme die Handlungsmöglichkeiten. Trotz dieses eindeutigen Bedarfs ist die bisherige Kenntnis zu Extremereignissen im Alpenraum höchst variabel.

Abbildung a,b,c :Eine der zahlreichen progressiven Lockergesteinsrutschungen in der Region »Klingfurth (NÖ)« im Juni 2009 (a), die im Zuge von Starkniederschlagsereignissen aufgrund der jeweils einsetzenden fluviatilen Ufer- und Sohlerosion immer wieder reaktiviert werden. Das durch die Vielzahl der Lockergesteinsrutschungen gesamthaft freigesetzte Murschuttvolumen gelangt in weiterer Folge entlang der wiederholt einsetzenden Erosion und des fluvialen Materialtransports (b) entlang der hochwasserführenden Bäche sukzessiv-kaskadenartig in den Siedlungsbereich von Klingfurth (c).

Das Ziel von ExtremA 2019

Die primäre Zielsetzung des Projektes ExtremA 2019 war es, den aktuellen Wissensstand über das Auftreten von Extremereignissen alpiner Naturgefahren sowie deren Ursachen und Folgen in Österreich darzustellen. Der Bericht soll eine wertvolle Informationsquelle für Entscheidungstragende darstellen und den fachpolitischen Diskurs hinsichtlich des Umgangs mit Naturgefahren im österreichischen Alpenraum unterstützen. Es sollen aber auch Forschungsdefizite zu dem komplexen Themenbereich aufgezeigt werden. Nach Thomas Glade, einem der Herausgeber des Berichts, soll die verbesserte Kenntnis der Sachlage eine Basis für die Wissenschaft und die anwendungsorientierte Praxis sein um das Seltene vor dem Hintergrund des Bekannten und Bewussten besser abschätzen zu können. Er betont, dass es nicht das Ziel sei, hier Ängste oder Unsicherheiten zu schüren. Es geht darum, sich mit den zwar sehr seltenen, dafür aber extremen Ereignissen präventiv in „Ruhezeiten“ auseinanderzusetzen, um für den - wenn auch sehr seltenen - Fall des Eintretens eines Extremereignisses besser vorbereitet zu sein.

Was sind Extremereignisse?

In der öffentlichen Berichterstattung wird oft von noch nie dagewesenen Naturereignissen und -katastrophen gesprochen, doch was genau sind Extremereignisse? Obwohl der Begriff einfach erscheint, ist es doch notwendig sich genauer damit zu befassen. Extremereignisse werden im allgemeinen Sprachgebrauch geläufig als außerordentliche Ereignisse, die – verglichen mit anderen Ereignissen ihrer Art– stark von Durchschnittswerten abweichen und in sehr großen unregelmäßigen Zeitabständen auftreten. Extreme hängen immer vom Betrachtungsobjekt und dem Beobachtungszeitraum ab und sind für verschiedene Naturgefahrenprozesse ganz unterschiedlich definiert.

Beispiele für ein großes Einzelextremereignis: Hangmure bei Danöfen (Vorarlberg) am 23. 08. 2005.

Oft handelt es sich bei Extremereignissen um Ereignisse mit hoher Magnitude bzw. Intensität und/oder geringer Eintrittswahrscheinlichkeit. Extreme lassen sich auf Grund ihrer physikalischen Eigenschaften definieren, in dem sie von bisherigen Erfahrungen, bzw. statistisch von einem Mittelwert abweichen. Derartige Eigenschaften können in Masse, Volumen, Geschwindigkeit, Temperatur, Niederschlag, freigesetzter Energie, etc. ausgedrückt werden. Folgt man dieser Definition, besteht kein zwingender Zusammenhang zwischen Extremereignissen und Katastrophen, da bei letzterem Begriff die gesellschaftlichen Auswirkungen im Mittelpunkt stehen. Im Sinne einer sehr langfristigen Entwicklung unserer Umwelt hatten „Extremereignisse“, also sehr große Umweltprozesse, schon immer einen Einfluss auf die Landschaftsentwicklung. Extreme lassen sich auch über außergewöhnliche Auswirkungen auf die Gesellschaft beschreiben, sei es in Form von Verletzten, Todesopfern, Gebäudeschäden, Beeinträchtigung von (kritischer) Infrastruktur oder des Verkehrs, landwirtschaftlichen Flächen/Produkten oder des Waldes, oder andere direkte oder indirekte gesellschaftliche bzw. wirtschaftliche Konsequenzen. Diese Konsequenzen sind so groß, dass man von einer Katastrophe spricht. Nicht jedes extreme Naturereignis ist gleich schadenswirksam. Auch relativ kleine Naturereignisse können eine gesellschaftliche Katastrophe hervorrufen und werden dann als „extrem“ bezeichnet. Extreme können auch durch rein gesellschaftliche Veränderungen herbeigeführt werden. Daraus zeigt sich, dass der Begriff Extremereignis nicht automatisch mit einer eindeutigen Beschreibung bestimmter Naturereignisse oder Katastrophen verbunden ist. Unter Katastrophen sind Situationen zu verstehen, in der die Möglichkeit zur Selbsthilfe der betroffenen Akteurinnen und Akteure überschritten ist und Unterstützung von auswärts notwendig ist um die unmittelbare Reaktion, und später auch den Wiederaufbau zu gewährleisten. Aus dieser Situation heraus fordert deshalb Thomas Glade, dass man sich unbedingt mit Extremereignissen in den verschiedensten Kontexten auseinandersetzen muss, um das „Extreme“ zu verhindern oder zumindest dessen Wirkungen zu reduzieren. Deshalb sei die Prävention so essentiell.

Unter Naturgefahren werden das räumliche und zeitliche Auftreten von bestimmten Magnituden natürlicher Prozesse oder Phänomene, welche potentiell zu Todesfällen, Verletzungen oder anderen gesundheitlichen Auswirkungen, Sachschäden, sozialen und wirtschaftlichen Störungen oder Umweltbeeinträchtigungen führen können, verstanden. Naturgefahren sind daher immer im Kontext möglicher negativer Auswirkungen für Menschen bzw. Gesellschaften zu sehen. „Extreme“ Naturgefahren zu definieren, ist schwierig. Noch schwerer ist es, diese vorherzusagen, zu bewältigen und sozioökonomische Konsequenzen abzuschätzen. Der Klimawandel und veränderte Rahmenbedingungen führen zu Verschiebungen von Zusammenhängen, sodass von vergangenen Ereignissen nicht mehr eineindeutig auf zukünftige geschlossen werden kann. Das hat beträchtliche Auswirkungen auf die Vorhersehbarkeit von Naturgefahren im Allgemeinen, trifft aber natürlich in noch viel größerem Maße für Extremereignisse und die daraus resultierenden Konsequenzen zu.

Skizze Extremereignisse
Stark vereinfachte Darstellung der wesentlichen Komponenten des konzeptuellen Modells »Extremereignis«

Stand des Wissens zu alpinen Naturgefahren in Österreich

Der Bericht fasst den Stand des Wissens zu folgenden Gefahrenarten zusammen:

  • meteorologischen Gefahren wie Niederschlagsverteilung, Starkniederschlägen und Hagel, Extremtemperaturen und Trockenheit, Sturm, Schnee- und Eislast;
  • hydrologischen Gefahren wie Nieder- und Hochwasser in Flüssen, Sturzfluten, Hochwasser mit Feststoffereignissen in Wildbächen (murartiger Transport, Wildholz), Bodenerosion;
  • gravitativen Naturgefahren wie Massenbewegungen inklusive Sturzprozessen (Felslawinen und Bergstürze, Steinschlag und Felssturz), flachgründigen Lockergesteinsrutschungen und Hangmuren, tiefgründigen Massenbewegungen mit Erdströmen und Muren sowie Lawinen;
  • periglazialen und glazialen Gefahren durch das Auftauen des Permafrosts, Schneelawinen (Fließ- und Staublawinen) und Gletschergefahren;
  • geophysikalischen Naturgefahren wie Erdbeben;
  • dem Umgang mit Überlastfällen (Überlastfälle und das damit verbundene Restrisiko sind jene Fälle, auf die die bestehenden Schutzmaßnahmen nicht ausgelegt sind);
  • Multi-Gefahren und potenziellen Kaskadeneffekten als kombiniertes Auftreten bzw. gegenseitiges Verstärken von unterschiedlichen Naturgefahren;
  • Extremereignissen mit zerstörender Wirkung auf Schutzwälder (Waldbrand);
  • gesellschaftsrelevanten Aspekte (Schutz kritischer Infrastrukturen, Vulnerabilität, ökonomische Dimensionen und Management im Katastrophenschutz);

Der Fokus von ExtremA 2019 liegt bei den verschiedenen Umweltprozessen, jedoch war es Ziel, auch darüberhinausgehende gesellschaftsrelevante Aspekte anzusprechen. Thomas Glade und sein Team betonen, dass auch gerade diese Aspekte einer weiteren Betrachtung bedürfen.

Einige Beispiele für Extremereignisse

Der Bericht greift auch Naturgefahren wie z.B. die Trockenheit auf, die nicht zu den klassischen alpinen Naturgefahren zählen. So nimmt Trockenheit zwar mit der Seehöhe deutlich ab, sie kann jedoch auch in höheren Lagen entstehen und somit Waldbrände oder extremen Schädlingsbefall begünstigen. Aktuelle Studien zeigen, dass jedes Dürreereignis ganz spezifische Ursachen der Entstehung aufweist (z. B. zeitliche Entwicklung, verursachende Wetterlagen, Rückkoppelung mit Bodenfeuchte) und eine Vorhersage von Dürreereignissen schwierig ist. Für systematische Warnungen vor Trockenheit, auch vor dem Hintergrund der verschiedenen Typen von Trockenheit (Niederschlagsdefizit, Trockenheit im Boden, Niederwasser) analog zu Hitzewellen zu ermöglichen, besteht Forschungsbedarf. Zu Starkniederschlag und Hagel ist eine Kernaussage, dass der Klimawandel tendenziell zu instabileren Luftschichtungen führt, die im Verlauf von Jahrzehnten sowohl Tiefdruckgebiete als auch Gewitter langsam niederschlagsreicher werden lassen. Ein hohes Starkregenrisiko besteht entlang der Alpenränder, das Hagelrisiko ist insbesondere in den angrenzenden Alpenvorländern hoch.

Waldbrände verursachen bereits heute in Österreich jedes Jahr Kosten und Schäden in Millionenhöhe. Eine Zunahme der Waldbrandaktivität ist in Zukunft wahrscheinlich. Obwohl der Mensch sehr häufig der Auslöser von Waldbränden ist, spielen auch die natürlichen Umweltkonditionen für das Auftreten und die Verbreitung von Waldbränden eine Rolle. Daraus ergibt sich eine verstärkte Gefährdung der Schutzfunktionalität von Bergwäldern und von Siedlungen und kritischer Infrastruktur, die direkt an Waldflächen grenzen.

Sturzfluten werden als Überflutungsereignisse definiert, die sich durch einen schnellen, starken Abflussanstieg auszeichnen. Der Überflutungsprozess kann dabei pluvial (fern von Gewässern und durch häufig sehr lokale Starkregenereignisse ausgelöst) oder fluvial (von ständig wasserführenden Gerinnen ausgehend) sein. Es wird angenommen, dass Sturzfluten/Oberflächenabflüsse bzw. die dafür relevanten Niederschlagsereignisse zukünftig intensiver und auch häufiger werden. Über aktuelle Ereignisse, bei denen es zu schweren, durch Sturzfluten verursachten Schäden in Gemeinden in Hanglagen kam, berichteten die Medien erst kürzlich (Anfang Juni 2020). Derartige Prozesse sind neu und bisher in der Natur in dieser Form noch nicht aufgetreten.

Durch den Klimawandel wird das Abtauen des alpinen Permafrosts beobachtet. Alpenweit haben Permafrosttemperaturen im letzten Jahrzehnt zugenommen. Felsbereiche scheinen sich dabei stärker zu erwärmen als Lockermaterial oder Boden. Dies kann einen signifikanten Beitrag zur Entstehung von gravitativen Massenbewegungen, wie Felsstürzen, Sackungen und Muren, leisten. Grundlage für Planungs- und Managementstrategien im Bereich Permafrost sind detaillierte Kenntnisse zur Permafrostverbreitung sowie der Entwicklung der Permafrosttemperatur. An Hotspots mit alpiner Infrastruktur ist ein hochaufgelöstes Monitoring der Permafrostdynamik erforderlich. Hotspots sind zum Beispiel stark frequentierte Seilbahnen, Gipfelstationen, sowie Berghütten, aber auch Regionen, die im Auslaufbereich eines Prozesses liegen, z.B. kritische Infrastruktur an Talhängen oder in den Tallagen selbst.

Folgende 2 Abbildungen veranschaulichen das Ausmaß eines extremen Murereignisses im Sölktal 2010

Hier sind deutlich die Muren durch die grauen Farben mit den Ablagerungsflächen in den Tallagen und der betroffenen Infrastruktur sichtbar
Auf diesem Bild sind die Quellgebiete in den Oberhängen und die Transportzonen der gravitativen Massenbewegung erkennbar.

Verwundbarkeit durch extreme Naturgefahren

Der Bericht befasst sich auch mit gesellschaftlichen Aspekten wie dem Schutz kritischer Infrastrukturen, dem Schutzwald und der Verwundbarkeit. Die Verwundbarkeit (Schadensanfälligkeit, Vulnerabilität) und Widerstandsfähigkeit (Resilienz) sind zwei zentrale Begriffe im Risikomanagement von Naturgefahren. Bisher wurde die Schadensanfälligkeit gegenüber Extremereignissen in Österreich kaum untersucht. Hinsichtlich der Dokumentation der Schadensanfälligkeit und allfälliger Analysen in Bezug auf die Entstehung von Schäden bestehen Forschungslücken. Mit Ausnahme von Überflutungs- und Wildbachschäden existieren kaum Informationen über räumlich-zeitlich verteilte Schadensmuster und physische, ökonomische, soziale und damit auch institutionelle Verwundbarkeit.

Von besonderer Bedeutung ist auch die ökonomische Dimension. Die unmittelbaren ökonomischen Auswirkungen von Schäden durch Naturgefahren im Alpenraum werden nicht systematisch gemessen. Das Schadenspotenzial ist jedoch beträchtlich. Die öffentliche Hand wendet hohe Summen auf, Schäden zu vermeiden und teilweise zu kompensieren. Diese Mittel bestmöglich einzusetzen, ist ein zentrales volkswirtschaftliches Erfordernis. Um dem gerecht zu werden, braucht es ein besseres Verständnis über die Zusammenhänge von Prozessen, Ereignissen und ökonomischen Konsequenzen. In Bezug auf alpine Naturgefahren besteht eine enge Beziehung zur Raumordnung, da es um die Abstimmung der öffentlichen und privaten Nutzung von Raumressourcen geht. Die Herausforderung besteht darin, eine Balance zu finden, die eine dynamische und wirtschaftliche Entwicklung von Regionen erlaubt und gleichzeitig die Risiken kontrolliert. Der Beitrag, den die Ökonomie dazu liefern kann, liegt in der Bewertung von Handlungsoptionen und im Aufdecken und Sichtbarmachen von Strategien, die für die Gesellschaft vorteilhaft sind.

Synthese

Zusammenfassend kommt der Bericht zum Schluss, dass Extremereignisse in allen Bereichen wirken. Jedoch ist weder die Erfassung von Extremereignissen einheitlich entwickelt, noch wird deren Modellierung und Darstellung nach ähnlichen Zugängen und vergleichbar durchgeführt. Während für einige Umweltelemente detaillierte, jahrzehntelange Messreihen vorliegen (z.B. Flusssysteme, meteorologische Messungen), existieren für andere Umweltelemente nur sehr lokal begrenzte und sporadische Aufzeichnungen (z.B. bei gravitativen Massenbewegungen wie Muren, Hangrutschungen, Felsstürze; Permafrost; Bodenerosion). Gleichzeitig werden die Konsequenzen möglicher Extremereignisse nur selten adressiert. Eine umfassende Monitoring-Datenbank der verschiedenen Umweltfaktoren existiert nicht. Extremereignisse haben einen direkten Einfluss auf die Umwelt, gleichzeitig nimmt ihre Bedeutung für die Gesellschaft laufend zu. Die besondere Herausforderung liegt darin, dass sich Naturgefahrenprozesse verändern und neue dazukommen, die in dieser Form noch nicht aufgetreten sind.

Deshalb ist der Umgang und die Bewältigung von Extremereignissen eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Es besteht ein großer inter-, intra- und besonders transdisziplinärer Bedarf an Zusammenarbeit. Im Bereich der Forschung besteht hoher Bedarf an gesicherten Erkenntnissen über das grundlegende Monitoring der Umweltprozesse, das Auftreten von Extremen sowie den Einfluss des klimatischen und gesellschaftlichen Wandels. Ferner ist es wichtig die Datengrundlagen zu erweitern und Monitoring- und Frühwarnsysteme weiterzuentwickeln bzw. aufzubauen. Hierbei spielt auch die Szenarienbildung auf Basis von Modellierungen eine große Rolle, um die potenziellen zukünftigen Entwicklungen abschätzen zu können. Auch Bewusstseinsbildung und Eigenverantwortung sind essentielle Elemente im Umgang mit extremen Naturgefahren. Für den Auftraggeber Florian Rudolf-Miklau, den Leiter der Wildbach- und Lawinenverbauung und Schutzwaldpolitik im BMLRT, ist mit ExtremA eine bisher nicht verfügbare umfangreiche Wissenssammlung entstanden, die wesentlich zu einer faktenbasierten Diskussion zu extremen Naturgefahren beitragen wird. Der Bericht bildet auch eine umfassende Basis für vertiefende Forschungsarbeiten über Extremereignisse, deren Ursachen und Wirkungen. Für ihn besteht kein Zweifel, dass der Bericht einen langfristigen wissenschaftlichen Prozess der Auseinandersetzung mit Extremereignissen anstoßen wird, um diese Ereignisse zukünftig noch besser prognostizieren und präventive Maßnahmen setzen zu können.

Zur Entstehung und zum Aufbau des Berichts

Der 776-seitige Bericht wurde im Auftrag der Abteilung Wildbach- und Lawinenverbauung und Schutzwaldpolitik im BMLRT erarbeitet. In einem mehrphasigen Prozess arbeiteten 85 Autorinnen und Autoren am Inhalt der Studie. Die einzelnen Beiträge wurden einem anonymen Review unterzogen. Die Rückmeldungen der Gutachterinnen und Gutachter wurden durch die Autorinnen und Autoren in die finale Version eingearbeitet. Die Wahl des Titels ExtremA 2019 setzt sich aus Extrem für Extremereignisse, A für Alpen und Österreich sowie 2019 als Betonung für das Datum des Berichts, für den der „aktuelle“ Wissensstand zusammengetragen wurde, zusammen.

Alle Kapitel beinhalten einleitend eine Zusammenfassung sowie Kernaussagen in jeweils deutscher und englischer Sprache. Des Weiteren werden in den einzelnen Kapiteln die historische Entwicklung der Forschung, der Stand des derzeitigen Wissens, Perspektiven für Handlungsoptionen, mögliche zukünftige Entwicklungen und resultierende Herausforderungen beleuchtet. Eingebettete Fachliteratur und Fallbeispiele, die sich auf den österreichischen Alpenraum fokussieren, veranschaulichen den jeweiligen Sachverhalt.

Das Buch ist im Vienna University Press Verlag erschienen und steht auch zum Download zur Verfügung. Für die Projektleiter war es besonders spannend zu dokumentieren, wie unterschiedlich die Sachkenntnis in den verschiedenen Bereichen ist, sei es im naturwissenschaftlichen Bereich der Umweltprozesse oder in den verschiedensten sozioökonomischen Dimensionen. Es hat sich als besonders bereichernd dargestellt, zu Beginn der Arbeit keine Definition des „Extremen“ vorzunehmen, sondern es als Aufgabe jedem Beitrag zu stellen, das Extrem im jeweiligen Kontext selbst zu definieren.

Für Thomas Glade ist es essentiell, sich weiterhin intensiv mit Extremereignissen in den jeweiligen Disziplinen und Institutionen zu befassen. Dabei muss stets im Auge behalten werden, dass es sich um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe handelt, die nicht mehr individuell zu lösen sondern nur gemeinsam zu bearbeiten ist, um eine Nachhaltige Entwicklung zu gewährleisten. Neue Auftretensmuster bereits bekannter Umweltprozesse müssen genauso berücksichtigt werden wie völlig neue Umweltprozesse, die bisher so noch nie erlebt wurden. Wechselwirkungen im Sinne von Kaskadeneffekten müssen viel stärker adressiert werden. Dabei geht es nicht nur um Kaskadenprozesse in den Umweltprozessen an sich, sondern auch im Sinne von gesellschaftlichen Wechselwirkungen. Für Thomas Glade bekommt dadurch das „Denke das Undenkbare“ eine immer größere Bedeutung als Zukunftsaufgabe für eine langfristige Nachhaltigkeit. (MB, Juni 2020)