Positionspapier zum Gemeingut Alpine Landschaft
Im Dezember 2020 veröffentlichte die CIPRA ein Positionspapier mit dem Titel „Alpine Landschaft ist nicht erneuerbar“. Sie leitet darin den Blick der Leserinnen und Leser zum Begriff „Landschaft“ und zeigt Aspekte zur Erhaltung von Landschaftselementen auf. Landschaft ist geprägt durch die kulturellen Werte der Gesellschaft, durch persönliches und soziales Handeln, aber selbstverständlich auch durch natürliche Entwicklungen.
Das CIPRA-Positionspapier vertritt zwei grundsätzliche Ansätze zum Umgang mit Landschaft: 1) Landschaft als Commons und 2) Landschaft ausverhandeln.
1) Unter Commons versteht man mehr als „nur“ ein Gemeingut. Beispiele für Commons sind kollektiv angelegte und genutzte Terrassen- und Bewässerungssysteme oder alpine Weideflächen. Sie verändern Landschaften stetig. Das Entscheidende sind die Praktiken und Prozesse im Hintergrund, denn diese müssen angepasst werden. Ein Commons wird gemeinsam erzeugt und der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Auch materielle und immaterielle Geschenke der Natur zählen dazu. Commons ermöglichen dabei das Gedeihen von sozialen Beziehungen. Entscheidend sind auch Veränderungen im Laufe der Zeit: Im Gegensatz zu früher sollen verstärkt Frauen, junge Menschen sowie Immigrantinnen und Immigranten in die Diskussion miteinbezogen werden. Ebenso wichtig sind eine kulturelle Verankerung der Commons und eine Sichtbarmachung in der Gesetzgebung. Die große Frage „Wer darf bzw. soll darüber entscheiden, wie sich Landschaft entwickeln soll?“, ist Landesgrenzen überschreitend zu beantworten.
2) Landschaft ausverhandeln bedeutet eine transparente Koordinierung unterschiedlicher Bedürfnisse und Interessen. Der Schutz von Natur, Biodiversität, Klima oder Wasser erhält oft nicht den notwendigen Stellenwert. Wirtschaftliche Interessen gehen häufig vor. Eine gute Landschaftspolitik greift auf wirksame Beteiligungsinstrumente zurück und gibt natürlichen Ressourcen ein hohes Gewicht. Artenvielfalt, Bodengesundheit und Landschaftsbild sind in diesem Kontext Indikatoren, die sich nicht weiter verschlechtern dürfen. Die CIPRA fordert daher eine konsequente Umsetzung der Europäischen Landschaftskonvention sowie der Alpenkonvention.
Anhand von fünf charakteristischen Mosaikteilen der Alpen werden Trends und Herausforderungen genauer definiert:
- Unerschlossene Landschaften: Diese sind mittlerweile sehr selten geworden. Die Verantwortung der alpinen Gesellschaften ihnen gegenüber ist enorm. Es gilt Rückzugs- und Potentialräume für Wildnis und Biodiversität sicherzustellen. Dazu ist dem Bau von Straßen, Seilbahnen, Energieinfrastrukturen u.a. massiv Einhalt zu gebieten. Was es braucht, ist eine Verbesserung bzw. Vereinheitlichung der Datengrundlage zu unerschlossenen Landschaften im Alpenraum.
- Landwirtschaftlich genutzte Flächen: Während in Ungunstlagen landwirtschaftliche Flächen verbuschen bzw. verwalden, breiten sich intensive Landwirtschaftsformen in Gunstlagen aus. Bei beiden gehen die für eine hohe Biodiversität so wichtigen Flächen verloren. Aber auch Praktiken und Artefakte wie Wege, Terrassen, Trockensteinmauern oder kleine Scheunen verfallen oder geraten in Vergessenheit. Besonders wertvolle Kulturlandschaften müssen daher erfasst und mit staatlicher Unterstützung geschützt werden. Kleinteilige Besitzstrukturen, die diesen Prozess verhindern, sollten überdacht bzw. überarbeitet werden. Dienstleistungen zur Förderung der Kulturlandschaft oder der Naturvielfalt sollen bei Direktförderungen Vorrang haben.
- Landschaft und Energie: Der Klimaschutz fordert eine Energiewende – das ist klar und bedeutet eine Verringerung des Verbrauchs an nicht-erneuerbaren Ressourcen, eine massive Steigerung der Effizienz und der Suffizienz sowie einen moderaten Ausbau erneuerbarer Energiequellen. Letzterer darf aber weder abgelegene, unberührte Landschaften noch empfindliche Ökosysteme zerstören. Eine alpenweite, koordinierende Planung, die Vorranggebiete bzw. Ausschlussgebiete definiert, ist notwendig. In Frage zu stellen ist eine zu große raumplanerische Kompetenz auf tieferen Verwaltungsebenen, da diese oft zu einer unkoordinierten Entwicklung führt. Wichtig wäre auch eine Entkoppelung des Energieverbrauchs vom gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wachstum.
- Landschaft und Freizeit: Freizeitaktivitäten wie Skilauf, Wandern, Klettern, Canyoning, Mountainbiken wirken zwar enorm auf die Landschaft ein, im Gegenzug prägen sie aber auch die Sichtweisen der Menschen. Aktuell sind die Alpen davon bedroht, übernutzt zu werden. Vielerorts sind die Belastungsgrenzen bereits erreicht oder gar überschritten. Es braucht Lenkungsmaßnahmen für einen maßvollen Tourismus, der Landschaftsqualität und Natur erhält, ja sogar verbessert. Im Dialog mit allen Nutzerinnen und Nutzern aus Stadt und Land sind Stadt-Land-Beziehungen zu verbessern und dabei gleichzeitig das Bewusstsein zu stärken und die Verantwortung aufzuteilen. Neue touristische Infrastrukturen sollen zukünftig nur noch in bereits intensiv genutzten Räume ermöglicht, bislang unerschlossene Gebiete vor neuer Infrastruktur geschützt werden. Es braucht keine Kapazitätserweiterung, vielmehr soll in aufgelassenen Freizeiteinrichtungen der Rückbau konsequent vollzogen werden.
- Städtische Landschaften: Zwar wurde der Bodenverbrauch zwischen 2010 und 2018 in Österreich halbiert, er beträgt aber immer noch 12 ha/Tag. Vor allem in bereits stark genutzten Talböden dehnen sich urbane Gebiete immer weiter aus. Negative Auswirkungen auf die Biodiversität, die Funktionalität der Böden sowie auf die Lebensqualität der Bevölkerung, beispielsweise durch steigende Temperaturen, Überflutungen, Muren und andere Naturgefahren, sind die Folgen. Was es braucht sind transdisziplinäre Formen der Raumplanung, welche soziale, ökologische, finanzielle und politische Aspekte berücksichtigen. In urbanen Räumen spielen grüne und blaue Infrastrukturen eine wesentliche Rolle. Die Stadtentwicklung ist auch mit einem bewussten Leerstandmanagement in Einklang zu bringen. Dass städtische Landschaften eine nicht unerhebliche Rolle zum Schutz der Biodiversität leisten, darf auch nicht vergessen werden: Insekten finden im urbanen Raum häufig mehr Nahrung und Lebensräume als in ländlichen Gebieten mit großen Monokulturen.
Vorherrschende Einstellungen von Bewohnerinnen und Bewohnern, Besucherinnen und Besuchern sowie Entscheidungstragenden hinterlassen unübersehbare Spuren in der Landschaft. Eine breite Bewusstseinsbildung, ein umfassendes Verständnis der Materie und eine mutige Selbstreflektion sind daher zum Schutz unserer wertvollen alpinen Landschaft unerlässlich.
Das Positionspapier ist in einem breiten partizipativen Prozess von CIPRA gemeinsam mit jungen Erwachsenen sowie Expertinnen und Experten aus den Alpenländern entstanden. (Februar 2021, MO)